Rupert Neudeck ist ein Mann der leisen Töne. Aber seinen Worten folgen – immer – Taten. Dem Gründer der beiden Hilfsorganisationen Cap Anamur (1979) und Grünhelme (2003) spricht man gern das Talent der „radikalen Humanität“ zu. Im Mai ist der Mann mit dem Rauschebart 76 Jahre alt geworden – und immer häufiger in Kevelaer zu sehen. „Zu Gesprächen. Und um Freunde zu treffen.“

Guten Tag Herr Neudeck, wiedermal am Niederrhein unterwegs?

Mit immer größerer Vorliebe für diese Landschaft, die ich immer mehr auswähle und schätze, aber noch nie von Weeze geflogen, weil ich gegen die Vervielfältigung von Flugplätzen aus ökologischen Gründen bin.

Ihre Frau stammt ja aus Dinslaken. Darf man einfach mal fragen, wo Sie sich kennengelernt haben?

In Münster und Budapest. In Münster haben wir parallel studiert in der wilden Zeit der 1968er, und ich verdiente mir etwas Geld als Reiseleiter beim studentischen Reisedienst. Und da war auf der Fahrt nach Budapest im Bus eine wunderbare, junge, temperamentvolle Frau – Studentin der Sozialpädagogik – mit dabei. Da war es um mich geschehen… Die Folgen sind seit 45 Jahren bekannt.

Wenn man die Namen Christel und Rupert Neudeck hört, verbindet man das sofort mit Cap Anamur und den Boatpeople. Stört Sie das?

Überhaupt nicht, das hat uns zu unserer eigenen Familie mit den drei eigenen Kindern und fünf Enkelkindern auch noch eine vertraute Großfamilie beschert: Die von dem Schiff Cap Anamur geretteten Vietnamesen fühlen sich uns nicht nur befreundet, sondern auch verwandt. Ein ganz großes Glück.

Sie haben in diesem Jahr den Bürgerpreis der deutschen Zeitungen bekommen. Ausschließlich Chefredakteure saßen in der Jury. Sie sahen schon ein bisschen stolz aus…

Solche Auszeichnungen nehmen wir glatt auf das Konto der jeweiligen Aktionen, also der Vereine Cap Anamur und der Grünhelme e.V., für die ich mittlerweile hauptsächlich arbeite. Und das üppige Preisgeld kommt dem Wiederaufbau für zurückkehrende irakisch-kurdische Jeziden, Muslime und Christen zugute.

Das Bundesverdienstkreuz haben Sie schon mal ausgeschlagen…

Ja, als Nicht-Regierungs-Organisation sollten wir mit dem Staat in Konkurrenz sein und nicht uns vom Staat auszeichnen lassen. Das ist der letzte Rest von christlicher Anarchie in mir.

Zu Ihrem 70. Geburtstag haben Sie gesagt, Sie wollten es nun ‘mal etwas ruhiger angehen lassen. Kurze Zeit später saßen Sie im Flieger nach Syrien…

Wie sagte der große Bundeskanzler Konrad Adenauer im weit vorgerückteren Alter. Was kümmert mich mein Geschwätz von vor über fünf Jahren…

Was geht in Ihnen vor, wenn Sie heute, 30 Jahre nach den Einsätzen der Cap Anamur, nach Lampedusa blicken, wenn Sie die Bilder der afrikanischen Boatpeople sehen?

Zweierlei. Einmal darf Europa Menschen vor seinen Küsten nicht einfach ertrinken lassen, sondern muss ihnen den Weg mit eigenen Transportmittlen (Marine Italiens und Marine der Bundesrepublik) erleichtern. Zum anderen wird es mit dem Strom junger Afrikaner nur dann anders werden, wenn wir mit einigen Ländern und Völkern nicht das beginnen, was wir in der Sprache der Diplomatie die strategische Partnerschaft, in der humanitären Sprache die Freundschaft nennen. Und die muss sich in einer gewaltigen Ausbildungsoffensive in einigen ausgewählten Ländern Afrikas ausdrücken.

Wie kann das gehen, „eben mal die Welt retten“?

Wie es uns die großen Religionen, das Evangelium, die Torah, der Koran sagen, die Welt nicht einteilen in Gute und Böse, nicht sich selbst zum Maßstab der Welt und arroganterweise alle anderen als unter uns wahrzunehmen. So wie es uns der Dalai Lama gesagt hat: „Die Welt ist ein viel kleinerer Ort geworden. Wir können uns nicht länger auf nationale, rassische oder ideologische Barrieren berufen, die uns angeblich trennen, ohne dass das zerstörerische Auswirkungen hat.“

Welches Herz schlägt stärker in Ihrer Brust – das des Jesuiten, das des humanitären Mahners, das des Störenfrieds, das des Journalisten?

Das habe ich nie gelernt, zu sagen: Als Humanitärer meine ich das so, als Mensch so, als Störenfried so…Nein, es gibt diesen wunderbaren Satz des Mystikers und Mathematikers Blaise Pascal, den ich immer zum Motto genommen habe: La coeur a des raisons, das Herz hat Gründe, que la raison ne connait pas, die die Vernunft nicht kennt. Das wäre eine gute Antwort auf Ihre Frage.

Und nun haben Sie ein Kevelaer-Projekt vor?

Ja, es steht ein Unternehmen bevor, das nur aus Liebe zum Frieden entstehen kann. Da die Religionen und Völker die Liebe zum Frieden eint, wollen wir uns in Kevelaer treffen am 28. August 2015, um einen Satz zu bewahrheiten. Diesen Satz hatte an diesem Tag 1963 der wunderbare Martin Luther King gesprochen: „I have a dream“. Wir sagen für den 28. August „We have a dream“. Niemand ist ausgeschlossen, es sei denn er schließt sich selbst aus.

(Das Interview führte Heike Waldor-Schäfer)